Wahrheit

Um es gleich vorweg zu sagen: eine Definition von Wahrheit wird es hier nicht geben. Es ist nach dem Stand verschiedener Wissenschaften - zuvorderst der Philosophie – vermutlich auch gar nicht möglich, eine solche ein für alle Mal feststehend zu verfassen.
Dennoch ist es reizvoll, dem Phänomen Wahrheit ein wenig Zeit zu widmen.

Tut man dies, so gerät man erst einmal an eine Reihe von Fragen.

Kann Wahrheit überhaupt absolut sein? Ist Wahrheit kongruent zu Richtigkeit? Ist Wahrheit eine Frage der individuellen Wahrnehmung oder gibt es Aspekte, die allgemein und grundlegend gültig sind, wenn von Wahrheit die Rede ist?

Die Anzahl solcher und anderer Fragen ließe sich um ein Vielfaches erweitern.

Wenn es also kaum abschließend möglich ist, Wahrheit in Gänze und in jeder Hinsicht zu beschreiben, geschweige denn festzulegen, so kann man dennoch versuchen, die Gedanken um diesem Begriff und seine Bedeutung kreisen zu lassen. Denn von „Wahrheit“ wird heuzutage viel gesprochen – oder von ihrem Gegenteil.

Ist die Erkenntnis, dass 3+5 die Summe 8 ergibt wahr? Nun. Sie ist rechnerisch nicht falsch, also richtig. Oder, wie es in der Schule heißen würde: korrekt. Diese Rechnung kann man nicht wahrnehmen, das Ergebnis jedoch rational ermitteln.

Wie verhält es sich mit der Aussage „Der Schlüssel ist weg“? Für denjenigen, der dies sagt, ist das wohl eine Feststellung, die der (oder aber seiner) Wahrheit entspricht: der besagte Schlüssel ist nicht in der Tasche, wo er vermutet wurde.

Für den Büro-Kollegen ergibt sich möglicherweise eine andere Wahrheit: Wie üblich verlegt der Kerl seine Sachen.

Doch der anwesende Gast, der sich im Büro umschaut, stellt zufällig fest, dass der Schlüssel im Schloß der Türe steckt, durch die er den Raum gerade verlassen wollte.

Und schwups, schon sind die beiden vorherigen Ansätze - bezogen auf die Ausgangslage - in einem anderen Licht zu sehen.

Was ist denn nun wahr?

Der Feststellung des unsortierten Kollegen „mein Schlüssel ist weg“ im Sinne von „nicht in meiner Tasche“ entspricht der Wahrheit. Er findet den Schlüssel nicht. Die Genervtheit des Mitarbeiters hat auch seine Berechtigung, denn der Schlüssel wurde offenbar mal wieder nicht ordnungsgemäß gehandhabt. Auch er liegt damit richtig.

Und gleichzeitig ist alles ganz anders, und die Aussage „Der Schlüssel ist weg“ ist nicht mehr wahr. Denn der Schlüssel ist ja – wie der Gast entdeckt – da.

Die Wahrnehmung - so könnte man schließen - macht also die (jeweilige) Wahrheit aus. Und die kann gleichermaßen lauten: der Schlüssel ist jetzt weg (ertastbar), der Schlüssel wurde wie stets verschusselt und ist nicht da, wo er sein sollte (erfahrbar), der Schlüssel steckt (sichtbar).

Was also ist dann Wahrheit? Und worüber streiten wir uns, wenn wir uns Meinungen um die Ohren hauen? Geht es um die Deutungshoheit, wer hier denn richtig liegt, ja sogar „die“ Wahrheit für sich gepachtet hat? Geht es um Rechthaberei? Geht es um Macht?

Leider geht es in den seltensten Fällen darum, sich mit der Wahrheit zu befassen bzw. eine Einigung über eine Wahrheit oder auch verschiedene Wahrheiten herzustellen.

Vielleicht ist das der springende Punkt für den Erkenntnisgewinn. Anstatt uns gegenseitig die Meinung zu sagen, im Brustton der Überzeugung, dass man die Wahrheit kennt, sollten wir uns vielleicht erst mal darüber verständigen, was wir wahrnehmen. Um erkennen zu können, dass wir unterschiedlich wahrnehmen und Wahrheit also eine jeweils andere ist oder zumindest sein kann.

Zugegeben, das macht die Sache nicht einfach. Aber vielleicht friedlicher, erkenntnisreicher und kreativer. Mal so als eine Wahrheit in den Raum gestellt.

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