Lektüre
Dieses Wort klingt furchtbar alt. Damit verbindet man keinen Trend, kein digitales Produkt, kein schnelles Erlebnis. Eher das aussterbende Modell einer Befassung mit Buchstaben, Worten, Texten, ganzen Sätzen gar.
Die Zufuhr von Inhalten geht heute anders und vor allem: schneller.
Man hört Texte, möglichst nicht zu lang. Man empfängt Push-Nachrichten, die in Häppchen-Formaten aufbereitet sind. Man sucht sich die Zusammenfassungen aus „dem Netz“, die man überfliegen kann.
Schon kapiert.
Bücher gehören zwar zum Bildungskanon, sie gelten in entsprechenden Kreisen zur Basis der Erziehung und Wissensvermittlung. Doch sie haben an Bedeutung verloren.
Das Problem ist: Für Lektüre braucht man Zeit. Und Muße. Und zwar nicht nur, weil man Wort für Wort, Satz für Satz und Seite für Seite lesen, sondern das, was darin steht aufnehmen, verarbeiten und verstehen muss. Das dauert.
Ein Hörbuch geht zwar schneller, aber nicht, weil der (Vor-)Lese-Vorgang als solcher flotter vonstatten ginge, sondern weil der Verarbeitungsprozess weitgehend fehlt bzw. enorm verkürzt wird.
Während man bei der klassischen Lektüre zwischendurch innehält, über einen Text nachdenkt, vielleicht zum besseren Verständnis nochmal zurückblättert, eventuell etwas markiert, mit jemand anderem darüber spricht und so das Geschriebene reflektiert, entfällt all das beim Hörbuch.
Und bei den Kurzfassungen in geschriebener Form fehlt zum Verständnis wiederum in der Regel der Zusammenhang, fehlen die Hintergründe, fehlt Vieles von dem, was Lektüre eigentlich ausmacht: sie ist ein Beitrag zum Verständnis einer Welt voller Wunder und Eigenarten.
Wie soll man sich eine fundierte Meinung bilden, diese immer wieder hinterfragen und mit anderen reflektiert austauschen können, wenn einem die Vielfalt gedachter und formulierter Gedanken Anderer fehlt, die man mit wiederum anderen Ideen, Vorstellungen und Perspektiven verbinden und vergleichen kann?
Das alles geht nicht, wenn man nur hinhört und die Info-Schnipsel im nächsten Moment wieder vergessen hat. Dann ist das ganze Leben wie eine Talkshow: mit viel Gerede aber ohne einen Inhalt, der bewegt und das eigene Leben weiterbringt.
Lektüre, das Lesen von Texten, dient nicht einzig der Wissensvermittlung nach unserer immer noch verbreiteten Vorstellung aus dem Schulkontext. Und wenn man mit Zeugnissen und Diplomen dann endlich aus den Lehranstalten raus ist, kann das ganze Papier weg.
Lektüre ist vielmehr ein kultureller Gewinn, der uns hilft, die Welt in ihren Zusammenhängen zu verstehen.
Und zwar nicht, weil in diesen Büchern Formeln stünden, die man nur lernen müsste, um dann zu wissen, wie‘s geht. Sondern weil das menschliche Werk, in Texten niedergeschrieben, uns Zugang gibt zum Umgang miteinander.
Solche Texte stehen in Büchern, die von klugen Menschen in der Vergangenheit geschrieben wurden, in Büchern, die ebenso kluge Köpfe der Gegenwart verfassen, in Artikeln journalistischer Magazine, deren Herausgeberinnen Wert legen auf inhaltliche Substanz oder auch in Internet-Beiträgen, die mehr sind als der schnelle „Guck-Mal-Post“.
Es gibt sie also: gute Lektüre. Vermutlich gab es noch nie so viel davon wie heute. Die fehlt also keineswegs. Was fehlt sind Leserinnen und Leser, die sich mit diesen Texten befassen und auseinandersetzen. Die hinter die Fassaden schauen und fortlaufend selber mitdenken wollen. Um gute Entscheidungen treffen, sich immer wieder auf Neues einstellen und Ungewöhnliches für diese Welt ausprobieren zu können.
Hier also der Aufruf für unser Miteinander und unseren substanziellen Austausch:
Lest liebe Leute!