Gepflogenheit
Kürzlich war dieses Wort in einem redaktionellen Beitrag zu lesen. Es würde mit einer Gepflogenheit gebrochen, die traditionell gültig gewesen sei, um Respekt zu zollen und ein Zeichen der Wertschätzung zu geben.
Gepflogenheit, Tradition - alles also ganz schon alt, wohl nicht mehr zeitgemäß. Kann man also lassen.
Da stellt sich allerdings die Frage: Ist alles, was nicht modern oder modisch, was nicht innovativ oder neu ist, was sich Effizienzregeln entzieht, was eine Vergangenheit hat, irrelevant geworden? Zählt das, was war, was Menschen geschaffen haben, welche Vereinbarungen sie trafen, auf welche Regelungen sie sich einigen konnten, nicht mehr? Schlicht, weil all das dem ultimativen Anspruch nach einer technischen und nach Praktikabilität ausgerichteten Zukunft nicht unterzuordnen ist? Stört der „alte Ballast“? Ist das Alles nur romantische Rückwärtsgewandtheit? Sind das Erinnerungen ohne Wert?
Wir verlieren den Boden unter den Füssen, wenn das, was war, mit Füssen getreten wird.
In dem Wort Gepflogenheit steckt etwas, das gerade in jüngster Zeit neue Aufmerksamkeit erreichen konnte und als „systemrelevant“, als wesentlicher Beitrag für die Gesellschaft erkannt wurde: Pflege.
Pflege nun ist nicht nur ein enorm anstrengender, herausfordernder und kräftezehrender Beruf, es ist etwas zutiefst Menschliches. Zumindest sollte es so sein.
Wenn man jemanden oder etwas pflegt, dann deswegen, weil es um humane Werte geht. Und die sind immer verbunden mit Respekt. Ein Mensch, der gepflegt wird, erfährt Zuwendung und die Bestätigung seiner Würde.
Eine Tradition, die man pflegt, ist im besten Fall nicht nur Gewohnheit oder Rückwendung zu etwas Vergangenem, sondern eine lebendige Idee, die immer wieder von Neuem in der Lage ist, uns Halt zu geben. Um auf dieser Basis die Zukunft lebenswert gestalten zu können.
Viele Gepflogenheiten sind uns gerade abhandengekommen. Begrüßungsrituale, Feste, gemeinsames Singen oder Spielen und Vieles mehr. Doch das muss nicht heißen, dass die Idee dahinter weg ist. Wir suchen nach neuen Möglichkeiten, uns Respekt, Aufmerksamkeit und Zuwendung zu schenken. Eine Art, die nicht altbacken wirkt, sondern lebendig, freundlich und motivierend.
Die Verbindung von humanen Gepflogenheiten und mutigem Gestaltungswillen, eine Kultur der Menschlichkeit, ist dringend notwendig, um unsere Zukunft mit dieser Themenvielfalt – Schutz unserer natürlichen Umwelt, Einsatz von Algorithmen, rechtstaatliche Demokratie, Aufwertung von Kultur, Überdenken finanzwirtschaftlicher Regelungen, Verständnis von Bildung, Wege der Kooperation, Verantwortlichkeit in einer diversen Welt usw. – möglich zu machen.
Das ist – wie oben beschrieben – sehr anstrengend. Aber wenn man‘s gemeinsam anpackt, dürfte die Sache ein lohnenswertes Projekt sein. Dieses und sein Ergebnis dann zu feiern, kann ja eine neue und zukünftig gültige Gepflogenheit begründen.
Es könnte also Sinn machen, sich anzuschließen und dabei zu sein. Willkommen!