Ignoranz
Das Gefühl, ignorant behandelt zu werden, dürften Viele schon erlebt haben. Und manchmal kommt der Eindruck auf, dieses Phänomen nimmt zu.
Doch bevor es ans Eingemachte geht, also hinterfragt wird, wo und wann und durch wen diese Verhaltensweise erkennbar wird, gilt es zu ermitteln, was es mit dem Wort auf sich hat.
Dazu müssen wir uns erst Mal wieder im Lateinischen umschauen. „Noscere“ bedeutet „kennen“ oder „wissen“. Das „i“ davor bezeichnet wiederum kein neues Angebot von einer Tech-Marke, sondern zeigt die gegenteilige Bedeutung von noscere an, also „nicht kennen“ oder auch „nicht wissen“. Oder auch: „nicht kennen oder wissen wollen“.
Entscheidend ist die Ergänzung „wollen“. Es geht nämlich bei der Ignoranz nicht darum, dass jemand etwas nicht weiß und über etwas keine Kenntnis hat, sondern dass dieser Jemand willentlich und bewusst andere oder eine ganz bestimmte Situation nicht beachten will. Mit Absicht entscheidet sich da also die eine Person, eine andere oder einen Umstand außer Acht zu lassen.
Ignoranz beinhaltet damit eine Beschränktheit, die darin besteht, sich nicht auf Andere und Anderes einzulassen. Einem möglichen Konflikt, einer Verunsicherung, einer Frage, einer fremden Sichtweise will man sich nicht stellen. Man will eben nichts davon wissen.
Und so entscheidet sich jemand dann nicht, sich zu öffnen, sondern man entzieht sich der Situation. Noch viel schlimmer: Ignorante Menschen entziehen sich der Verantwortung, der Anteilnahme, der Hilfestellung. Der Menschlichkeit.
Genau dieses Verhalten wiederum legen zunehmend die Personen an den Tag, die sich selber eine gewisse geistige Fähigkeit, eine rationale Kompetenz zuschreiben und sich für eine „Entscheider-Elite“ halten.
Vielleicht hat das damit zu tun, dass dieses Verständnis von „Entschiedenheit“ oft einhergeht mit demonstrativer Emotionslosigkeit, mit dem Zurückdrängen von Empathie, mit der Vorstellung, dass gute Entscheidungen rein sachliche Entscheidungen seien. Und die müssen von allem losgelöst werden, das zu Unbehagen führen könnte.
Glasklare Sicherheit – das ist es, was Entscheider und manchmal auch Entscheiderinnen signalisieren wollen. Da hilft Einfühlungsvermögen nicht weiter.
Ignoranz hat also vermutlich deswegen solch eine Verbreitung gefunden, weil es den Machern (und Macherinnen) die Sache einfacher macht.
Ob in Unternehmen, in Bildungseinrichtungen, unter Freunden und Freundinnen, im Alltag – verbreitet zieht man sich auf sich selber und die eigenen Befindlichkeiten zurück, anstatt auch einmal mehr wissen zu wollen und sich um die Frage zu bemühen, was außerhalb des eigenen Dunstkreises eigentlich los ist.
Ignoranz ist wie eine Tarnkappe, unter der man unsichtbar wird. Aber Vorsicht: Man könnte selber ignoriert werden.